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EuGH stärkt weiter den Urlaubsanspruch

September 27, 2022

EuGH stärkt weiter den Urlaubsanspruch

  1. Verjährung des Urlaubsanspruchs

Der Europäische Gerichtshof („EuGH“) hat mit Urteil vom 22. September 2022 entschieden, dass ein Urlaubsanspruch nicht nach deutschem Recht verjährt, wenn ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer nicht auf den möglichen Verfall von Urlaub hingewiesen und somit seine Hinweispflichten verletzt hat (Urt. v. 22.09.2022, Az. C-120/21).

Eine Arbeitnehmerin war von 1996 bis Juli 2017 bei einer Kanzlei als Steuerfachangestellte tätig und konnte wegen hohen Arbeitsaufkommens ihren Urlaub nicht vollständig nehmen. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses forderte die Arbeitnehmerin Abgeltung für insgesamt 101 nicht genommene Urlaubstage aus den Jahren 2013 – 2017. Der Arbeitgeber lehnte die Zahlung der Urlaubsabgeltung ab und erhob die Einrede der Verjährung. Einen Hinweis, dass der Urlaub verfallen kann, wenn er nicht genommen wird, hatte der Arbeitgeber der Arbeitnehmerin nicht gegeben.

Das Arbeitsgericht Solingen (Urt. v. 19.02.2019, Az. 3 Ca 155/18) wies die Klage hinsichtlich der nach deutschem Recht verjährten Ansprüche erstinstanzlich ab. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Urt. v. 02.02.2020, Az. 10 Sa 180/19) gab der Klägerin dagegen Recht. Daraufhin legte der Arbeitgeber Revision beim Bundesarbeitsgericht („BAG“) ein. Dieses legte dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vor (Vorlagebeschl. v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20 (A)), um zu klären, ob der Urlaubsanspruch gem. §§ 194 Abs. 1, 195 BGB trotz Verletzung der Hinweispflichten verjährt ist.

Der EuGH entschied, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums nur erlischt, wenn der betreffende Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch rechtzeitig auszuüben. In dem vorliegenden Fall jedoch sei die Arbeitnehmerin von ihrem Arbeitgeber nicht tatsächlich in die Lage versetzt worden, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen. Der Arbeitgeber soll nach Ansicht des EuGH nicht aufgrund der Verletzung seiner Hinweis- und Aufklärungspflichten einen Vorteil ziehen und die Anspruchsverjährung geltend machen können.

Demnach widerspricht das deutsche Verjährungsrecht den Vorgaben der europäischen Arbeitszeitrichtlinie, wenn dies zum Urlaubsverfall beim nicht aufgeklärten Arbeitnehmer führt.

Folglich ist nach dem EuGH also die positive Kenntnis über die Rechtslage erforderlich, damit die Verjährungsfrist zu laufen beginnt. Die bloße Kenntnis der tatsächlichen Umstände wird hierzu wohl nicht ausreichend sein.

Der EuGH hat bereits 2018 deutlich gemacht, dass Urlaub nur unter strengen Voraussetzungen verfallen kann (EuGH, Urt. v. 06.11.2018, Az. C-684/16). Danach verfallen Urlaubsansprüche nur dann automatisch, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage war, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dies ist nach dem EuGH aber nur dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer erforderlichenfalls sogar dazu auffordert, den Urlaub zu nehmen und ihm mitteilt, dass der nicht genommene Urlaub am Ende des zulässigen Übertragungszeitraums oder am Ende des Arbeitsverhältnisses verfallen wird. Das BAG hat diese Rechtsprechung mit Urteil vom 19. 02.2019 (BAG, Urt. v. 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16) umgesetzt, so dass Urlaub nur dann verfallen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen, und ihn klar und rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertragungszeitraums erlischt.

  1. Urlaubsanspruch bei Krankheit

Außerdem entschied der EuGH ebenfalls mit Urteil vom 22. September 2022, dass der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, in dem Jahr in dessen Verlauf er vor einer vollen Erwerbsminderung oder vor einer seither fortbestehenden Krankheit tatsächlich gearbeitet hat, nur erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben (Urt. v. 22.09.2022, Az. C-518/20 und C-727/70).

C-518/20

In dem einen Fall war der Arbeitnehmer seit 2000 bei dem Arbeitgeber beschäftigt. Er bezieht infolge einer schweren Behinderung seit dem 1. Dezember 2014 eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung, die zuletzt bis zum 31. August 2022 verlängert wurde. Der Arbeitnehmer fordert mit seiner Klage 34 Urlaubstage aus 2014 ein, die er aufgrund seines Zustandes nicht nehmen konnte. Der Arbeitgeber hatte an der Gewährung und Inanspruchnahme des Urlaubs nicht mitgewirkt und berief sich auf den Verfall des Urlaubs 15 Monate nach dem Ablauf des Urlaubjahres (Az.: C‑518/20).

Nachdem die Gerichte der Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, legte der Arbeitnehmer beim BAG Revision ein.

Daraufhin legte das BAG dem EuGH die Frage vor, ob der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaub aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?

C‑727/20

Eine Arbeitnehmerin ist seit dem Jahr 2017 arbeitsunfähig erkrankt, ohne dass sie alle Urlaubstage in 2017 genommen hatte. Der Arbeitgeber hatte sie weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen kann. Die Arbeitnehmerin forderte die 14 offenen Urlaubstage aus dem Jahr 2017 gerichtlich ein. Nach Ansicht des Arbeitgebers war der Jahresurlaub aus dem Jahr 2017 am 31. März 2019 erloschen. Nachdem die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, legte die Arbeitnehmerin beim BAG Revision ein.

Das BAG legte dem EuGH die Frage vor, ob der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?

Die beiden Fälle wurden vor dem EuGH verbunden und mit Urteil vom 22. September 2022 entschieden. Danach kann die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch eingeschränkt werden, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Bei dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit oder voller Erwerbsminderung im laufenden Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, kommt ein Verfall für den Urlaubsanspruch aus diesem Jahr aber nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben. D.h. auch hier treffen den Arbeitgeber Hinweis- und Aufklärungspflichten im Zusammenhang mit dem Urlaubsanspruch, dessen Gewährung und dessen Erlöschen.

Stephanie Kolb
Rechtsanwältin